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Ruhige See


Das Herz-Sutra

 

Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Befreiung ist das Erkennen von Shunyata, der Leerheit aller körperlichen und geistigen Phänomene. Leerheit bedeutet nicht, dass nichts existiert. Leerheit bedeutet die Abwesenheit eines unveränderlichen, dauerhaften Wesenskerns. Wenn wir in der Meditation den ständigen Wandel dieser Welt betrachten und untersuchen, wie alles Körperliche entsteht, können wir erkennen, dass alle körperlichen Formen aus verschiedenen Elementen zusammengesetzt sind. Dieses Entstehen ist ein Tanz der Elemente, wobei die Elemente eine immer größere Gruppe bilden, bis eine wahrnehmbare Form entsteht. So braucht ein Baum, um wachsen zu können, unter anderem das Element Wasser. Wenn wir diese Verwandlung der Form Wasser in einen Baum betrachten, sehen wir, dass von dieser Form auch auf der tiefsten Ebene nichts mehr übrig bleibt. Die Form Wasser hat sich vollständig aufgelöst und ist ein Teil dieses Baumes geworden, ohne dass ein Wesenskern des Wassers in den Baum übergegangen ist. Und so ist es auch mit allen anderen Formen (Elementen), die ein Baum braucht, um wachsen zu können. Wenn der Baum stirbt, wird sich seine Form auf die gleiche Weise wieder auflösen und in neue Formen übergehen. Letztlich ist alles, was existiert, substanzlose Energie, die immer wieder neue Formen annimmt. Alles ist wie eine Welle in einem unendlichen Ozean von Energie. 

 

Auch alles Geistige entsteht auf Basis unendlich vieler Bedingungen in einem ständigen Wandlungsprozess. Dass alles Geistige ohne substantiellen, dauerhaften Wesenskern ist, können wir recht schnell erkennen, wenn wir die Auflösung betrachten. Denn was bleibt übrig, wenn sich eine Sinneswahrnehmung (also auch ein Gedanke), eine Geistesbildung oder eine Empfindung wieder auflöst? Sie hinterlassen vielleicht eine Spur, eine Erinnerung, aber auch die löst sich irgendwann wieder auf. Und was bleibt, wenn sich das Bewusstsein auflöst? Vielleicht geraten wir jetzt in Panik bei dem Gedanken, dass nichts bleibt. Aber ändern sich die Dinge, nur weil wir sie anders denken? Die Welt und wir selbst existieren nur, weil sich alles verändert. Gleichzeitig wünschen wir uns Beständigkeit. Gerade dieser Wunsch nach Beständigkeit in einer sich verändernden Welt führt zu Leid. Das ist die schlechte Nachricht. Die gute Nachricht ist, dass es einen Ausweg gibt, den wir mit Hilfe der Meditation finden können. Ein hilfreicher Text dazu ist das folgende »Herz der vollkommenen Weisheit Sutra«, auch kurz »Herz-Sutra« genannt.

 

Avalokitesvara Bodhisattva, in tiefste Weisheit versunken, erkannte, dass die fünf Daseinsgruppen leer sind und verwandelte so alles Leid und allen Schmerz. Sariputra! Form ist nichts anderes als Leere und Leere ist nichts anderes als Form. Form ist identisch mit Leere und Leere ist identisch mit Form. Und so ist es auch mit den Sinneswahrnehmungen, den Geistesbildungen, den Empfindungen und dem Bewusstsein. Sariputra! Alles ist in Wahrheit leer. Nichts entsteht und nichts vergeht. Nichts ist unrein, nichts ist rein. Nichts vermehrt sich, nichts vermindert sich. In der Leerheit gibt es keine Form, keine Sinneswahrnehmungen, keine Geistesbildungen, keine Empfindungen und kein Bewusstsein, keine Augen, Ohren, Nase, Zunge, keinen Körper und keinen Geist; es gibt nichts zu sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen oder zu denken; es gibt keine Unwissenheit und kein Ende der Unwissenheit; es gibt kein Altern und keinen Tod und keine Aufhebung des Alterns; es gibt kein Leiden und keine Ursache des Leidens; es gibt keine Auslöschung und keinen Weg der Erlösung; es gibt keine Erkenntnis und kein Erreichen. Weil es nichts zu erreichen gibt, leben die Bodhisattvas in Prajna Paramita und ihr Geist ist unbeschwert und frei von Angst. Alle Buddhas der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft leben Prajna Paramita und erlangen dadurch die höchste Erleuchtung. Erkenne also, dass Prajna Paramita das große Mantra ist, das strahlende Mantra, das unübertroffene Mantra, das höchste Mantra, das alles Leiden stillt. Dies ist die Wahrheit, die fehlerlose Wahrheit. Deshalb sprich das Prajna Paramita Mantra: Gate, gate, paragate, parasamgate, bodhi, svaha! (Gegangen, gegangen, ganz ans andere Ufer gegangen, Erleuchtung, Segen!)

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