MAHABODHI LINDENFELS

Die zehn Ochsenbilder des Zen
Mahākassapa, einer der bedeutendsten Schüler Buddhas, gilt als der erste Patriarch des Zen-Buddhismus in China und Japan. Die volle Erleuchtung ereignete sich bei ihm während einer Versammlung von Mönchen. Als Buddha die Versammlung betrat, sagte er nichts. Anstatt die Lehre ausführlich darzulegen, griff er nach rechts, nahm eine Blume und zeigte sie den Mönchen. Dann zeigte Buddha auf den frisch ordinierten Mönch, der tief atmend, mit übergroßen Augen und einem begeisterten Lächeln da saß, und sagte: »Kassapa hat es verstanden, Kassapa hat es wirklich verstanden.« Und tatsächlich verstand Mahākasapa die tiefe Bedeutung dieser Geste. Seine Erleuchtung gilt als die Geburtsstunde des Zen.
Die symbolische Darstellung des Zen-Weges zur Erleuchtung stammt aus der Blütezeit des Zen im alten China. Sie erzählt die Geschichte eines Hirten auf der Suche nach seinem verlorenen Ochsen, seinem wahren Selbst. Obwohl es sich eigentlich um einen Wasserbüffel handelt, hat sich im Westen die Bezeichnung »Ochsenbilder« eingebürgert. Der spirituelle Weg wird in den Ochsenbildern als die Suche nach dem Ochsen, das Finden des Ochsen und seine Zähmung beschrieben. Schließlich verschwinden Ochse und Mensch und der Übende landet im zehnten Bild als Erwachter auf dem Marktplatz des Alltags.
Der ursprünglich aus sechs, später acht Bildern bestehende Bilderzyklus wurde von buddhistischen Lehrern der Soto-Zen-Schule gemalt, die die Vorstellung einer allmählich fortschreitenden Erleuchtung vertraten. Alle diese Darstellungen versuchten in ähnlicher Weise, den fortschreitenden Prozess der Zen-Schulung durch einen weißen Ochsen darzustellen, der von Bild zu Bild immer schwarzer wurde. Doch im 12. Jahrhundert malte der Zen-Meister Kakuan Shien diesen Prozess noch einmal in einer Version mit zehn Bildern und fügte jedem Bild ein Gedicht mit Kommentar (kursiv) hinzu. Kakuans Ochsenbilder zeigen im Gegensatz zu den früheren Darstellungen keinen immer schwarzer werdenden Ochsen - sein Ochse bleibt auf allen Bildern unverändert schwarz. Auf diese Weise bringt er klar zum Ausdruck, dass der ursprüngliche Geist in Wirklichkeit nie befleckt wurde, da er ewig rein und unverändert ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass es keinen geistigen Entwicklungsprozess bis zum Erwachen gibt.

1
Die Suche beginnt
Trostlos in der endlosen Wildnis dieser Welt bahnt er sich den Weg auf der Suche nach seinem Ochsen durch das hohe Gras, folgt namenlosen Flüssen, verirrt sich auf den verschlungenen Pfaden ferner Berge. Erschöpft und verzweifelt findet er den Ochsen nicht. Im Abendnebel hört er nur noch das Zirpen der Zikaden.
In Wirklichkeit ist der Ochse nie verloren gegangen. Warum ihn also suchen? Nur weil er von seiner wahren Natur getrennt ist, kann der Hirte ihn nicht finden. In der Verwirrung seiner Sinne hat er seine Spur in der staubigen Weite verloren. Fern der Heimat begegnet er einem Gewirr von Wegen, doch welcher ist der Richtige? Die Sehnsucht nach Gewinn und die Angst vor Verlust lodern wie loderndes Feuer, die Vorstellungen von Gut und Böse stehen sich gegenüber wie Speerspitzen auf dem Schlachtfeld.
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2
Die Spuren werden entdeckt
Am Flussufer unter den Bäumen entdeckt er die Spuren des Ochsen! Selbst unter dem duftenden Gras sieht er seine Fährte. Wie weit der Ochse auch laufen mag, bis in die tiefsten Schluchten der fernen Berge, die Fährte ist so wenig zu übersehen wie die eigene Nase, die zum Himmel gerichtet ist.
Durch das Verstehen der Lehre findet er die Fußspuren des Ochsen. Er erkennt nun, dass alle Dinge, so verschieden sie auch sein mögen, von demselben Gold sind, und dass alles Sein nicht verschieden ist von seinem eigenen Sein. Aber er kann noch nicht das Wahre vom Falschen unterscheiden. Er ist noch nicht durch das Tor hindurchgegangen, aber er hat den Weg erkannt.
Das erste Bild zeigt den Hirten auf der Suche nach seinem verlorenen Ochsen, seinem wahren Sein. Wir alle leben in unmittelbarer Einheit mit diesem wahren Sein - nichts könnte näher sein. Und doch können wir es wegen des Staubs in unseren Augen nicht sehen. Aber wir machen uns auf die Suche, das heißt, wir wissen irgendwie, dass diese Buddha-Natur in uns ist. Im zweiten Bild entdeckt der Suchende die Spuren des Gesuchten. Er weiß noch nicht genau, was er sucht, aber er ahnt es. Durch die Beschäftigung mit der Lehre wird ihm bewusst, dass die Wahrheit nur jenseits aller Worte und nicht in Worten und Buchstaben zu finden ist. Nachdem er Meditation geübt und Literatur gelesen hat, hat er ein gewisses Verständnis erlangt, obwohl er die Erfahrung noch nicht gemacht hat. Aber er hat begriffen, dass Gefäße verschiedener Form doch alle von gleichem Gold sind, dass alles und jedes eine Offenbarung dieser einen Wirklichkeit ist.
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3
Der Ochse wird erblickt
Hell klingt der Gesang der Nachtigall. Die Sonne scheint mild, der Wind weht sanft, die Wiesen am Flussufer sind grün. Da steht der Ochse, nichts kann ihn mehr verbergen. Welcher Künstler könnte diesen prächtigen Kopf mit den herrlichen Hörnern malen?
Wenn man die Stimme hört, spürt man den Ursprung. Sobald die sechs Sinne sich verflüchtigen, hat man das Tor durchschritten. Wohin man auch geht, überall sieht man den Kopf des Ochsen. Diese Einheit ist wie Salz im Wasser und Farbe in der Tinte. Nicht einmal das kleinste Ding unterscheidet sich vom wahren Selbst.
4
Der Ochse wird gefangen
Er greift fest nach dem Führstrick des Ochsen und hält ihn mit großer Anstrengung fest. Der Wille des Ochsen ist noch zu stark, seine Kraft noch zu ungestüm, um seine Wildheit zu bändigen. Er stürmt hinauf auf die Hochebenen über den Wolkennebeln oder steht in der unwegsamen Schlucht.
Heute hat der Hirte den Ochsen gefangen, der lange in der Wildnis verborgen war. Mit großer Mühe legt er ihm die Zügel an, doch der Ochse folgt ihm nicht. Denn verliebt in die vertraute, liebliche Wildnis, zieht es ihn noch immer stark zu ihr hin. Voller Sehnsucht nach dem süß duftenden Gras wandert er davon. Der Geist ist noch zu wild und eigensinnig. Wenn er ihn zähmen will, muss er zur Peitsche greifen.
Das dritte Bild zeigt, wie der Hirte zum ersten Mal einen Blick auf das erhascht, was er sucht: Einsicht in das Wesen der Dinge und des eigenen Selbst, die beide im Grunde nicht verschieden sind. Nach einiger Zeit ist er dem Ochsen begegnet. Aber er sah nur den Schwanz und die Hinterbeine. Er hat eine Erfahrung gemacht, die dem Erwachen sehr ähnlich ist. Es ist ein kurzes Aufblitzen der reinen Sicht auf die eigene, wahre Natur (Kensho). Im vierten Bild hat der Hirte den Ochsen mit einer Leine eingefangen; der Ochse wehrt sich noch heftig. Ein erster, noch sehr unsicherer Kontakt mit den Kräften des Unbewussten ist hergestellt. Auf dieser Stufe wird Kensho bestätigt. Aber wie man auf dem Bild sieht, möchte der Ochse am liebsten weglaufen, und der Hirte muss ihn mit aller Kraft zurückhalten. Eigentlich hat er jetzt genug Erfahrung, um den Spruch zu verstehen: »Alle Dinge und ich kommen aus derselben Quelle.« Aber im Alltag kann er seinen Geist nicht so beherrschen, wie er es sich wünscht. Mal wird er vom Zorn gepackt, mal ist er von Habgier besessen, mal ist er blind vor Eifersucht und so weiter. Aber er kann und will die Zügel nicht aus der Hand geben und versucht, den Ochsen zu zähmen, auch wenn es seine Kräfte zu übersteigen scheint. Heute hat er den Ochsen getroffen, der lange in der Wildnis herumgestreunt ist. Aber der Ochse hat so lange in der Wildnis gelebt, dass es nicht leicht ist, ihn von seinen alten Gewohnheiten loszureißen.
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5
Der Ochse wird gezähmt
Peitsche und Leitseil sind notwendig, er darf sie keinen Augenblick aus der Hand lassen, sonst läuft der Ochse auf der staubigen Straße davon. Aber gut gezähmt wird er geduldig und sanft. Ohne Strick und Zügel folgt er willig dem Hirten.
Erhebt sich ein Gedanke, so folgen ihm andere. Im Erwachen des Geistes wird alles wirklich. In der Verwirrung des Geistes ist alles unwirklich. Die Dinge erhalten ihre Existenz nicht durch die äußere Welt, denn sie erheben sich nur im eigenen Geist. Der Hirte muss das Leitseil fest halten und darf keinen Zweifel aufkommen lassen.
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6
Der Heimritt auf dem Ochsen
In heiterer Gelassenheit reitet der Hirte gemächlich auf dem Rücken des Ochsen nach Hause. Durch den fernen Abendnebel schallt weithin der Klang seiner Flöte. Die Verse seines Liedes sind von unendlich tiefer Bedeutung. Braucht er noch Worte, um diesen tiefen Sinn zu verstehen?
Endlich ist der Kampf vorbei. Sieg und Niederlage haben sich in Leere aufgelöst. Der Hirte singt ein ländliches Lied und spielt auf der Flöte die einfachen Lieder der Dorfkinder. Er sitzt auf dem Rücken des Ochsen und blickt heiter zu den Wolken und zum Himmel. Wenn man ihn ruft, dreht er sich nicht um. Will man ihn festhalten, bleibt er nicht stehen.
Das fünfte Bild zeigt, wie der Hirte den Ochsen hütet und am Strick führt. Die nun sicher gewonnene Wahrheit kann durch keine Täuschung mehr verloren gehen. Nach langem zähen Hin und Her ist der Ochse endlich einigermaßen zahm. Der Kontakt hat sich vertieft, ist aber immer noch ein Kampf, in dem mal der Hirte (das Ich-Bewusstsein), mal der Ochse (die inneren Kräfte) stärker sind. Der Hirte muss das Leitseil fest ergreifen und darf keinen Zweifel zulassen. Das sechste Bild zeigt die Heimkehr des singenden und Flöte spielenden Hirten auf dem Rücken des gehorsamen Ochsen. Sichere, freudige Ruhe der Einsicht, alles geht von selbst. Jetzt ist die Beziehung kein Kampf mehr, die Machtspiele haben aufgehört, die Energien der inneren Kräfte tragen den Menschen. Der Ochse ist nun zahm und willig. Selbst wenn man ihm die Zügel aus der Hand nimmt, trottet er friedlich in die Abendstille und man kann bequem auf ihm reiten. In diesem Geisteszustand, den man ‚die heiter-gelassene Widerspiegelung des Geistes‘ nennt, ist man zu einem mühelosen, stillen Gewahrsein des Geist-Ochsen gelangt. Damit ist ein Zustand ununterbrochenen inneren Friedens mit klarem, anstrengungslosem Gewahrsein des Geistes gemeint. In dieser Verwirklichung existiert nur die Gegenwart. Man ist ganz eins geworden mit dem Augenblick. Es ist die Rückkehr zur Harmonie mit der allumfassenden Ganzheit des Seins.
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7
Der Ochse ist vergessen
Auf dem Rücken des Ochsen kehrt er heim. Aber siehe, der Ochse ist nicht mehr da. Allein sitzt der Hirte in heiterer Ruhe. Der Morgen dämmert, die rote Sonne steht schon hoch am Himmel. Der Glanz ihres klaren Lichtes strahlt wie eine zeitlose Ewigkeit. In seinem strohgedeckten Haus liegen Peitsche und Leitseil nutzlos herum.
In der höchsten Wahrheit gibt es keine Dualität. Der Ochse ist unser ursprüngliches, allerinnerstes Wesen - das hat er nun erkannt. Wenn der Hase gefangen ist, braucht man keine Falle mehr. Wenn der Fisch gefangen ist, braucht man das Netz nicht mehr. Es ist, als hätte man glänzendes Gold von der Schlacke befreit, oder wie der Mond, der hinter den Wolken hervorkommt.
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8
Kein Ochse, kein Mensch
Peitsche und Leitseil, Ochse und Hirte, sie haben sich im Nichts aufgelöst. Unendlich weit ist der tiefblaue Himmel, kein Wort kann ihn beschreiben. Kann eine Schneeflocke im lodernden Feuer bestehen? Ist er dort angelangt, begegnet er dem Geist der alten Patriarchen des Zen.
Er ist frei von geistiger Verblendung, und alle Vorstellungen von Erleuchtung sind verschwunden. Er verweilt nicht dort, wo Buddha ist. Aber auch dort, wo Buddha nicht ist, geht er schnell vorbei. Da er nirgends verweilt, können auch tausend Augen sein Innerstes nicht durchschauen. Und wenn hundert Vögel seinen Weg mit herrlichen Blumen bestreuen würden, so würde ihm diese Ehrerbietung nichts nützen.
Im siebten Bild ist der Hirte wieder allein, aber ist er noch derselbe? Er hat sein inneres Wesen erkannt, die Sehnsucht danach ist nicht mehr nötig, die Kämpfe der Dualität sind vorbei. Eine explizit bewusste Einsicht ist nun überflüssig, da der ersehnte Seinszustand erreicht ist. Jetzt vergisst man das Kensho. Welches heilige Gefühl oder welchen wunderbaren Geisteszustand man auch erfahren mag, sobald man über sich selbst im Zusammenhang damit nachdenkt oder sich dessen bewusst wird, beginnt es zur Last zu werden. Man lässt alles geschehen, wie es will, und lässt es einfach wie einen Fluss vorbeifließen. Was geschehen ist, ist geschehen; was vergangen ist, ist vergangen. Sobald man sich herablässt, sich über irgendetwas Gedanken zu machen, beginnt der Verfall. Im achten Bild hat der Hirte nun auch sich selbst vergessen. Es herrscht nur noch wache Offenheit. Der leere Kreis ist im Zen das Symbol der Einheitserfahrung, der Erleuchtung (Satori). Jetzt ist der Mensch frei und offen für das, was der Augenblick bringt. In der Wirklichkeit, gibt es keine Dualität. Jeglicher Dualismus ist in letzter Klarheit aufgelöst, alles ist leer.
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9
Rückkehr zum Ursprung
Er kehrte zum Ursprung zurück. Aber seine Schritte waren vergeblich. Besser wäre es gewesen, er wäre von Anfang an blind und taub gewesen, in seiner wahren Heimat wohnend, ohne Verlangen nach dem Außen. Der Fluss fließt, wie er fließt, die roten Blumen sind von selbst rot.
Von Anfang an gibt es keinen Staub - die Wahrheit ist klar. Er betrachtet das Entstehen und Vergehen in der Welt und verweilt im ruhigen Nicht-Tun. Er lässt sich nicht täuschen von den vergänglichen Trugbildern dieser Welt des Wandels. Warum sollte er sich anstrengen? Blau fließen die Flüsse, grün sind die Berge. Er ruht in sich und betrachtet den Wandel der Dinge.
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10
Mit helfender Hand
Mit entblößter Brust und nackten Füßen mischt er sich unter die Marktleute. Mit zerlumpten, staubbedeckten Kleidern lacht er breit über das ganze Gesicht. Ohne Wunder zu vollbringen, bringt er verdorrte Bäume zum Blühen.
Selbst der weiseste Heilige erkennt ihn nicht in seinem Inneren. Der Bereich seines Innersten ist tief verborgen. Er geht seinen eigenen Weg - warum sollte er in die Fußstapfen der Patriarchen treten? Mit der Kürbisflasche geht er auf den Markt, mit dem Wanderstab kehrt er in seine Hütte zurück. Den Wirten und Fischhändlern zeigt er den Weg des Erwachens zu ihrem wahren Selbst.
Ein kleiner Ruck, und man steht in der warmen Frühlingssonne, die Blumen blühen, die Vögel zwitschern, die Menschen sitzen beim Picknick im Gras. Wenn man genau hinsieht, erkennt man die gleiche alte Welt, die man gestern gesehen hat. Das einfache Dasein der Dinge, über deren Wesen nicht mehr spekuliert werden muss. Die Natur ist unverändert. Und der Mensch? Der Mensch hat sein altes, gewohntes Bewusstsein abgelegt und ist in das Land der Reinheit zurückgekehrt. Nach langem Bemühen hat er seine Selbstentfremdung überwunden und ist zu seiner ursprünglichen Natur zurückgekehrt. Die Bäu-me blühen wie zuvor, aber der Mensch steht nicht mehr im Gegensatz zur Natur, sondern ist ein lebendiger Teil von ihr. Das zeigt das neunte Bild. Der Weg führt zurück in die normale Alltagswelt. Kein Heiliger kehrt zurück, sondern ein ganz normaler Mensch mit seinen Schwächen, die er aber kennt und mit Gelassenheit und Humor trägt. In unscheinbarer Gestalt, bedürfnislos und heiter, seine Weisheit nicht zur Schau tragend, geht der Erleuchtete unter die Menschen. Das zehnte Bild zeigt einen dickbäuchigen, unbe-kümmerten Mann, der sich nun nicht mehr um sein Äußeres kümmert, Sinnbild seiner geistigen Entblößung. Er denkt nur noch daran, anderen Freude zu bereiten. Der letzte entscheidende Schritt weg vom einsamen Asketen hin zum Einsatz für die Gemeinschaft unterstreicht das Ideal des helfenden Erleuchteten. Er geht seinen Weg und führt andere auf den Weg zur Buddhaschaft.