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Spuren im Geist

 

Der historische Buddha, Siddhattha Gotamas einziges Ziel war es, einen Weg zur Leidensfreiheit zu finden. Vor seinem Erwachen beschäftigte sich Siddhattha gedanklich intensiv mit den Entstehungsbedingungen des Leidens und gelangte so zur zwölfgliedrigen Entstehungskette des Leidens, dem Paticcasamuppāda. In der Nacht seines Erwachens sah er in tiefer Meditation die Richtigkeit dieser Entstehungskette klar vor sich, was seinen Geist endgültig von den verblendenden Einflüssen befreite. Paticcasamuppāda sagt, es gibt dies, weil es jenes gibt, so wie es Licht und Wärme gibt, weil es eine Sonne gibt. Ohne das Eine gäbe es das Andere nicht, so wie es ohne die Sonne kein Licht und keine Wärme gäbe. Weil es zwölf Voraussetzungen für die Entstehung von Leid gibt, spricht man auch von der zwölfgliedrigen Entstehungskette. Es wird empfohlen, regelmäßig (auch außerhalb der Meditation) über Paticcasamuppāda nachzudenken und jeden Schritt, vorwärts und rückwärts, im Detail zu betrachten. Wenden wir uns nun den zwölf Bedingungen zu. Dies in der Hoffnung, ein wenig Einsicht in die Entstehung des Leidens zu gewinnen, vor allem aber, um zu sehen, wie es vermieden werden kann.​​

Die Entstehung rückwärts

In unserer Betrachtung beginnen wir, wie damals Siddhattha Gotama, mit Zerfall und Vergehen und betrachten die Bedingungen sozusagen rückwärts. Wir verwenden die Begriffe Zerfall und Vergehen und nicht Alter und Tod, weil es so leichter ist, sie auf alles zu beziehen, woran sich unser Geist anhaften könnte. Zerfall bezieht sich auf die Gebrechen und den Verfall, die mit dem Altern einhergehen. Zerfall und Vergehen führen jedoch nur dann zu geistigem Schmerz, wenn es Anhaftung gibt. Nachdem Siddhattha in seiner Untersuchung festgestellt hatte, dass Dukkha mit Zerfall und Vergehen (Alter und Tod) verbunden ist, stellte er sich die Frage: Was ist die Bedingung für Zerfall und Vergehen? Er beschäftigte sich intensiv mit dieser Frage und die Erkenntnis stieg in ihm auf: Zerfall und Vergehen hängen vom Entstehen ab. Das klingt für uns sehr klar und logisch und wir könnten die Frage stellen: Warum ist er nicht gleich darauf gekommen! Aber er begann ganz unvoreingenommen und stellte auch das Offensichtliche in Frage. Dann stellte er die Frage, was die Bedingung für das Entstehen ist und erkannte, dass das Heranwachsen die Bedingung für das Entstehen ist. So wie ein Baby im Mutterleib wächst, bevor es geboren wird, so wachsen Dinge und Ereignisse heran, bevor sie entstehen. Eine Blume braucht einen Stil, damit sie zur Blüte kommen kann. Man könnte das Heranwachsen mit dem Stil vergleichen. Auch unsere Wünsche gehen in der Regel nicht sofort in Erfüllung. Es braucht bestimmte Bedingungen, damit sie in Erfüllung gehen können. Wenn wir uns zum Beispiel einen langen Urlaub auf einer fernen Insel wünschen, dann brauchen wir dafür die finanziellen Mittel, die wir im Moment vielleicht nicht haben. Unser Wunsch geht aber nicht verloren. Wir sparen und schaffen damit die Voraussetzung, dass dieser Wunsch in Erfüllung gehen kann. So wächst unser lang ersehnter Urlaub heran. Aber nicht nur die großen, auch die kleinen Wünsche können für eine Weile im Unterbewusstsein verschwinden, dort wachsen und dann, wenn die richtigen Bedingungen da sind, wieder auftauchen.

Die nächste Frage war: Was sind die Bedingungen für das Heranwachsen? Die Antwort: Die Bedingung für das Heranwachsen ist das Anhaften. Der Geist klebt sozusagen an etwas fest. Der Grund, warum der Geist an etwas festklebt, ist das Haben-Wollen. Warum wollen wir etwas haben? Weil wir es mit einer angenehmen Empfindung in Verbindung bringen. Wir wollen am liebsten nur angenehme Empfindungen haben. Deshalb wollen wir auch automatisch Unangenehmes vermeiden. In den Yogasutras von Patanjali heißt es: »Habenwollen entsteht aus der Annahme, dass durch etwas Glück entsteht. Nicht-Haben-Wollen entsteht aus der Annahme, dass durch etwas Unglück entsteht«. Empfindung entsteht bedingt durch Wahrnehmung. Alle Wahrnehmungen sind mit Empfindungen verbunden. Sie erzeugen aber weder Glück noch Unglück, sondern sind einfach so, wie sie sind. Bevor es überhaupt zu einer Empfindung kommen kann, muss der Geist mit dem Objekt in Kontakt treten. Die Voraussetzung für eine Empfindung ist also der Kontakt. Normalerweise werden die sechs Sinnesbereiche als Bedingung für Kontakt genannt. Um das Verständnis zu erleichtern, nennen wir hier die Wahrnehmung, zu der auch unsere Gedanken gehören, als Voraussetzung für den Kontakt. Voraussetzung für die Wahrnehmung sind die Sinnesorgane Augen, Ohren, Nase, Zunge, Haut und der denkende Geist, die Teil des Körpers sind. Die Bedingung der Wahrnehmung ist also ein Körper und ein Geist, der die Wahrnehmung verarbeitet. Wir sind nun beim letzten Abschnitt angelangt: Bewusstsein, Gestaltung und Unwissenheit. Voraussetzung für die Entstehung von Körper und Geist ist Bewusstsein. Ohne Bewusstsein wären Körper und Geist nicht lebensfähig. Bewusstsein entsteht bedingt durch Gestaltung. In der Entstehungskette ist mit Gestaltung gemeint: Die in Willenstätigkeit bestehende Gestaltung von Denken, Reden und Handeln. Unter Denken wird hier die in der Willenstätigkeit bestehende geistige Tätigkeit gemeint. Durch unser Denken, Reden und Handeln wirken wir in dieser Welt, was bestimmte Folgen nach sich zieht. Wenn das Denken, Reden und Handeln im Unheilsamen wurzelt, wird es unheilsame Folgen haben, sprich: Leid. Die Unwissenheit bzw. das Nicht-Erkennen von Leid, seiner Ursache, seiner Auflösung und des Weges zur Auflösung ist diese Wurzel und die Bedingung für die unheilsame Gestaltung. 

 


Die Entstehung vorwärts

Betrachten wir nun die bedingte Entstehungskette vorwärts. Solange wir das Leiden und seine Ursache nicht erkannt haben, solange die Auflösung nicht verwirklicht und der Weg zur Auflösung noch nicht vollständig beschritten ist, solange besteht Unwissenheit. Aus dieser Unwissenheit heraus entsteht die unheilsame Gestaltung. Durch Gestaltung entsteht Bewusstsein. Bedingt durch das Bewusstsein bilden sich Körper und Geist einschließlich der Sinnesgrundlagen, durch die wir die Dinge wahrnehmen können. Bedingt durch die Wahrnehmungen entsteht Kontakt mit den Dingen. Bedingt durch den Kontakt entstehen angenehme, unangenehme und neutrale Empfindungen. Bedingt durch angenehme Empfindungen entsteht das Habenwollen. Bedingt durch dieses Habenwollen entsteht Anhaften. Aus diesem Anhaften entsteht das Heranwachsen. Auf das Heranwachsen folgt das Entstehen, auf das Entstehen folgt Zerfall und Vergehen. Auf das Zerfall und Vergehen folgt das Leid. Dieses Leiden folgt aber nur, solange der Geist an dem Objekt haftet. Wenn das Anhaften mit der Zeit nachlässt und sich auflöst, dann folgt auf das Vergehen auch kein Leid. Wenn wir in der Vergangenheit etwas gekauft haben, weil wir es schön fanden und unbedingt haben wollten, es jetzt aber hässlich und schrecklich finden, dann haben wir kein Problem damit, wenn es verschwindet.

 

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Die Verwandlung

Nachdem wir Paticcasamuppāda vorwärts und rückwärts besprochen haben, sehen wir nun, was passiert, wenn Leid sich aufgelöst hat. Wenn Leid sich aufgelöst hat, haben sich auch bestimmte Glieder aufgelöst. Andere werden wir auf andere Weise erfahren. Zum Beispiel hat ein erwachter Mensch immer noch ein Bewusstsein, einen Körper und Wahrnehmungen, aber er erlebt sie auf eine andere Weise als ein nicht erwachter Mensch. Nach dem Erwachen hingegen werden zum Beispiel Begierde, Hass oder Anhaftung natürlich nicht mehr vorhanden sein. Wenn das Leiden und seine Ursache erkannt, seine Auflösung verwirklicht und der Weg zur Auflösung beschritten wurde, hat sich die Unwissenheit in Wissen verwandelt. Durch die eingehende Betrachtung von Entstehen und Vergehen wurde die Unbeständigkeit, Ich-Losigkeit, Unzulänglichkeit vom Körper, Geist und aller Phänomene erkannt. Dies führt zu einer neuen Prägung des Geistes, in dem die Entstehung von unheilsamen Gedanken, Worten und Taten nicht mehr stattfinden kann und somit auch die damit verbundenen karmischen Folgen nicht mehr auftreten werden. Aufgrund der Gestaltung und der Formen wird Bewusstsein gebildet. Das Bewusstsein bildet sich, wie alles, was existiert, prozesshaft, ohne dass ein »Ich« notwendig ist. Aber wenn wir genau hinschauen, ist es nicht so, dass wir, wenn wir etwas erleben, immer noch glauben, dass ich das erlebe! Diese Annahme, dass ich etwas sehe, höre, rieche, schmecke, spüre oder denke, ist tief in uns verwurzelt. Ist das Bewusstsein von dieser Ich-Idee geprägt, findet automatisch eine Unterscheidung bzw. Trennung zwischen diesem vermeintlichen »Ich« und dem Rest der Welt statt. Bedingt durch dieses »Ich« erleben wir unseren Körper und unseren Geist als getrennt in dieser Welt. Und wir erleben die Dinge, die wir wahrnehmen, als außerhalb von uns. Natürlich hat auch ein erwachter Mensch ein Bewusstsein. Der Unterschied zu einem nicht befreiten Geist besteht darin, dass ein befreiter Geist frei von einer Ich-Idee ist. Der Befreite erlebt sich und die Welt frei von Unterscheidungen. Er erlebt alles als Teil von sich selbst und seinen Körper und Geist als Teil des Ganzen. Dadurch erlebt er auch den Kontakt mit den Dingen ganz anders als ein Nicht-Befreiter. Da der Befreite frei von einer Ich-Idee ist, erlebt er die Wahrnehmungen einfach als Wahrnehmungen, ohne dass es ein Ich gibt. Diese Vorstellung von »ich nehme wahr« ist bei ihm nicht mehr vorhanden. Er erlebt das Sehen einfach als Sehen, das Hören einfach als Hören usw. Und obwohl die Wahrnehmungen immer noch mit Empfindungen einhergehen, lösen diese Empfindungen kein Haben-Wollen oder Nicht-Haben-Wollen mehr aus. Da es kein Habenwollen und Nichthabenwollen mehr gibt, gibt es auch kein Anhaften mehr. Da es kein Anhaften mehr gibt, kann im Geist auch nichts mehr heranwachsen. So gibt es auch kein Entstehen, Zerfall und Vergehen mehr und damit auch kein Leid. Und auch das, was bereits entstanden ist, verursacht beim Zerfall und Vergehen kein Leiden mehr, da es keine Anhaftung mehr gibt. Der Geist eines Befreiten kann mit einem Lotusblatt verglichen werden. Wie ein Wassertropfen von einem Lotusblatt abperlt, so entstehen und vergehen die Dinge in seinem Geist, ohne eine Spur zu hinterlassen. In vollkommenem Gleichmut verweilend, haftet er an nichts. Weil er an nichts haftet, ist er frei von Leid und erfährt Glückseligkeit und vollkommenen Frieden.

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